Doppelinterview

Wie steht's um die Genossenschaft, meine Herren?

  • Beide forschen zur Genossenschaft, beide machen sich – wenn auch aus unterschiedlichem Blickwinkel – Gedanken über deren Zukunft: „cooperativ“ hat Johann Brazda von der Uni Wien und Dietmar Rößl von der WU gemeinsam an einen Tisch gebeten, um den aktuellen Zustand und die Perspektiven des Genossenschaftswesens in Österreich zu beleuchten.

    „cooperativ“: In Wien gibt es zwei Einrichtungen, die zum Thema Genossenschaften forschen. Sie beide stehen ihnen vor. Wo liegen die Unterschiede?

    Johann Brazda: Da wäre zunächst einmal das Alter …

    (Beide lachen)

    Brazda: Ich meine natürlich nicht das Alter der handelnden Personen, sondern jenes der Einrichtungen. Den Fachbereich an der Universität Wien gibt es schon seit 1952. Später erkannte man das Potential der hohen Studentenzahlen an der Wirtschaftsuniversität und gründete auch dort ein Institut. Zugegeben: Am Anfang gab es Konkurrenzdenken, der damalige Vorstand wollte die Gründung verhindern. Aber das war einmal – schade um die Zeit! Denn das neue Institut hat sich als wertvolle Ergänzung erwiesen. Während wir unsere Stärken im historischen, soziologischen und rechtlichen Bereich haben, steht an der WU das Management im Vordergrund. Eigentlich sollte man ja jeden Studenten beide Institute durchlaufen lassen.

    Dietmar Rößl: Meine Einrichtung ist Ende der 1980er Jahre als Vertiefungsschiene im Bereich Gewerbe, Klein- und Mittelbetriebe entstanden. Daraus wurde dann schließlich 2005 ein eigenes Forschungsinstitut, das sich vor allem mit dem Management-Aspekt von Genossenschaften befasst. Daher sehen wir uns auch als Anlaufstelle für kooperative Geschäftsmodelle. Auch ich meine, dass sich die beiden Institute wechselseitig ergänzen. So hat etwa das Institut von Herrn Brazda 2012 – im Internationalen Jahr der Genossenschaften – die IGT an der Universität Wien federführend ausgerichtet, unser Institut durfte hier Juniorpartner sein, und so hat das Ganze aus meiner Sicht hervorragend geklappt. Und im Institut von Herrn Brazda ist viel Wissen um die Genossenschaften in Österreich gebündelt.

    Heute gibt es in Österreich knapp 1.800 Genossenschaften mit rund 3,3 Millionen Mitgliedern, wobei die Tendenz leicht fallend ist, insbesondere im Bereich der Kreditgenossenschaften, aber auch in der Landwirtschaft. Wie ist es um unser Genossenschaftswesen bestellt?

    Brazda: Es gibt eine Tendenz hin zur Konzentration, zu größeren Einheiten. Das schlägt sich in den Zahlen nieder. Zugleich haben wir aber auch große Defizite im Bereich der Neugründungen. Durchschnittlich entstehen pro Jahr nur 15 neue Genossenschaften. Anders als in Deutschland gibt es auch kaum gezielte Aktionen, um daran etwas zu ändern.

    Rößl: Ich glaube nicht, dass man die Relevanz von Genossenschaften nur durch deren Gesamtzahl ausdrücken kann! Letztlich geht es um die Bedeutung für die Mitglieder und die ökonomische Bedeutung für die Gesamtwirtschaft. Diese Bedeutung ist ungebrochen. Allerdings: Vielfach werden Genossenschaften von den Mitgliedern gar nicht differenziert wahrgenommen. So werden im Bereich des Wohnbaus Wohnungen von gemeinnützigen Wohnbauunternehmen generell als Genossenschaftswohnungen wahrgenommen.

    Bei unseren deutschen Nachbarn gab es in den letzten Jahren einen wahren Boom an Neugründungen. Warum ist der bei uns ausgeblieben?

    Rößl: Das hat mehrere Ursachen. Zum einen wird das deutsche Vereinsgesetz viel rigider angewandt. Dass Vereine – wie bei uns – eindeutig unternehmerische Aktivitäten setzen, ist dort nicht so leicht möglich. Daher passiert das in Genossenschaften. Zudem forciert man in Deutschland Kooperationen unter Ärzten in Form von Genossenschaften, bei uns setzt man da auf GmbHs. Und schließlich kam es im Gefolge der Antiatombewegung und des proklamierten Atomausstiegs zu zahlreichen Neugründungen im Energiebereich.

    Brazda: Im Zuge der Einführung der Europäischen Genossenschaft musste in ganz Europa der Rechtsrahmen entsprechend angepasst werden, Deutschland hat das gezielt für eine große Reform genutzt. Vor allem die neue soziale Zielsetzung hat dabei in Form von Sozialgenossenschaften stark Fuß gefasst. Und nicht zu vergessen: Es gibt bei unseren Nachbarn Schülergenossenschaften. Man fängt also schon in der Schule mit der Wissensbildung in diesem Bereich an.

    Rößl: Ich bin überzeugt davon, dass das Thema Sozialgenossenschaften auch in Österreich noch greifen wird. Der Leidensdruck wird noch steigen, und dann erwarte ich etwa im Bereich der Seniorenbetreuung viele experimentelle Geschäftsmodelle – einige wohl auch in Form von Genossenschaften.

    Wie schaut es mit der öffentlichen Wahrnehmung von Genossenschaften in Österreich aus?

    Rößl: Wir haben in den letzten Jahren eine Reihe von Studien zum Image von Genossenschaften im Allgemeinen sowie von Kredit- und Wohnbaugenossenschaften im Besonderen durchgeführt. Das Ergebnis ist immer: Genossenschaften werden grundsätzlich als sehr sympathisch wahrgenommen, ihr Bekanntheitsgrad ist hoch. Allerdings fehlt es an Detailwissen: So ist vielen nicht klar, wer eigentlich die Eigentümer von Genossenschaften sind und welche Rechte sie haben.

    Brazda: Ein Problem ist auch, dass der moderne Verein für junge Leute viel attraktiver ist als die Genossenschaft – wobei es auch Defizite bei der Beratung gibt.

    Rößl: Richtig! Kaum ein Wirtschaftsberater käme in Österreich auf die Idee, eine Genossenschaft vorzuschlagen. Zudem fehlt einfach die Risikobereitschaft. Man sollte spannende, neue Initiativen ermuntern, sich als Genossenschaft zu formieren, auch wenn die eine oder andere scheitert.

    Was sind denn nun heutzutage noch die wesentlichen Vorteile der Genossenschaft – gegenüber dem Verein auf der einen und gegenüber der GmbH auf der anderen Seite?

    Rößl: Ganz klar – im Vergleich zur GmbH besteht der Vorteil der Flexibilität, Ein- und Austritt sind viel einfacher möglich. Und anderes als der Verein ist die Genossenschaft eine Unternehmensrechtsform mit Revision, die zwar mit Kosten verbunden ist, aber dafür auch Sicherheit gibt.

    Brazda: Wichtig ist auch zu betonen, dass bei der Genossenschaft nicht das Kapitalinteresse im Vordergrund steht, sondern die Person, das Miteinander. Das passt eigentlich wunderbar in die Zeit der sozialen Medien.

    Wie sieht es mit den vielzitierten genossenschaftlichen Werten aus? Haben die noch Gültigkeit?

    Rößl: Es gab eine Zeit, in der man das Thema Genossenschaft eher in den Hintergrund gestellt hat. Man wollte den Wert des Genossenschaftlichen nicht wahrnehmen. Kreditgenossenschaften etwa haben gesagt: Wir sind eine Bank, und das ist es! Mittlerweile nehme ich aber ein Umdenken wahr: Die Werte werden wieder erkannt und auch stärker betont, wenngleich das von Sektor zu Sektor und von Genossenschaft zu Genossenschaft sehr unterschiedlich ist.

    Brazda: Ich habe grundsätzlich meine Probleme mit genossenschaftlichen Werten und Prinzipien. Als die ersten Genossenschaften gegründet wurden, war das noch gar kein Thema! Erst nachträglich hat man versucht, einen Wertekatalog aufzustellen. Das demokratische Prinzip etwa wurde dabei völlig überhöht. Dass in einer Gruppe demokratisch abgestimmt wird, war bei den ersten Gründungen einfach selbstverständliche Praxis und keine große Sache. Heute braucht es teilweise neue Lösungen, etwa für große Genossenschaften. Bahnbrechend war hingegen die Definition von Georg Draheim, der 1952 formulierte: Genossenschaften sind eine Unternehmung. Ein Quantensprung – denn damit gelten auch die Gesetze der Ökonomie, und die Genossenschaft ist zugänglich für wissenschaftliche Forschung. International ist das aber noch immer umstritten: Auf Kongressen kommen einem Themen unter wie „Genossenschaft und Liebe“ oder „Genossenschaft und Frieden“. Manche glauben eben, Genossenschaften seien die Lösung für alle globalen Probleme.

    Wo sind denn nun die Grenzen der Genossenschaft, was kann sie nicht leisten?

    Rößl: Überall dort, wo das Kapitalinteresse im Vordergrund steht, stößt die Rechtsform an ihre Grenzen.

    Brazda: Genossenschaften funktionieren nur dann, wenn es Bedarf an kooperativem Handeln, an gemeinsamen Lösungen gibt. Dieser Bedarf kann sich im Zeitverlauf ändern. Was früher noch eine Überlebensfrage war, spielt heute vielleicht keine Rolle mehr.

    Rößl: Ich sehe das emotionslos. In manchen Bereichen sterben Genossenschaften aus, dafür entstehen in anderen Bereichen neue. Letzteres ist überall dort der Fall, wo staatskollektive Lösungen fehlen und individuelle Lösungen nicht funktionieren, weil beide unfinanzierbar sind.

    Wo sehen Sie die großen Zukunftsfelder und Perspektiven?

    Rößl: Voraussetzung für eine Genossenschaft ist immer – wie Herr Brazda ja schon festgestellt hat – ein Sachproblem, das sich gemeinschaftlich besser lösen lässt als allein. Ich glaube, das trifft wie schon erwähnt auf die Seniorenbetreuung zu. Aber auch bei Kooperationen von Ein-Personen-Unternehmen sehe ich Potential. Je nach Ausgestaltung entsprechen diese dann gewerblichen Genossenschaften, können aber auch sehr nahe am Geschäftsmodell der Produktivgenossenschaften dran sein. Dazu kommen kommunale Aufgaben wie die Sicherstellung der Nahversorgung, eventuell mit Beteiligung der Gemeinde, wobei die Bürgermeister ihre Kompetenzen nach einer unserer Studien zumindest derzeit nur ungern teilen wollen. Und schließlich sind Genossenschaften auch Pionierunternehmen für Geschäftsmodelle, die anders nicht oder noch nicht realisierbar sind.

    Brazda: Einerseits sehe ich Potential in Bereichen mit Staatsversagen: Wo der Staat sich – auch aufgrund finanzieller Engpässe – zurückzieht, können neue Formen von Bürgerbeteiligung entstehen, vor allem im Sozialbereich. Aber Potential gibt es auch bei Marktversagen: Wenn etwa Banken es nicht schaffen, genügend Kredite zu vergeben, findet sich eben eine Alternative wie Crowdfunding.

    Und was ist mit den Kreditgenossenschaften?

    Rößl: Die größte Herausforderung besteht für sie heute darin, einen adäquaten Mitgliedernutzen darzustellen. Am besten geht das noch mit dem Argument des Verantwortungsbewusstseins für die Region. Hat die regionale Bank einen ausreichend hohen Marktanteil, dann kann man sagen: Jede Förderung der Region ist zugleich auch eine Förderung der Mitglieder. Aber es gibt auch noch andere Möglichkeiten, Mitgliedernutzen zu generieren. So könnte man mitgliederexklusive Beratungsformen oder Veranstaltungen anbieten – aber das und vieles andere passiert ja auch!

    Brazda: Die Wissenschaft hat dazu schon viel auf den Tisch gelegt. Manches – etwas die Förderbilanz – war ein zu hoch gestecktes Ziel. Andere Ideen sind genial, etwa die Zinsrückvergütung, bei der Mitglieder einen Teil der bezahlten Kreditzinsen zurückbekommen, wenn der Geschäftserfolg der Bank stimmt.

    Wie passen Genossenschaften, die ja stark vom persönlichen Kontakt leben, in die digitale Welt?

    Rößl: Das ist aktuell eine der größten Herausforderungen. Der Druck der digitalen Kommunikation ist so groß, dass man sich ihm nicht verschließen kann. Man sollte daher besser die Chancen sehen. Es geht dabei aber darum, die persönliche Beziehung zwischen Genossenschaft und Mitglied und zwischen den Mitgliedern untereinander aufrecht zu erhalten. Ich halte das in der digitalen Welt für möglich. Und wenn etwa durch die elektronische Teilnahme an der Generalversammlung mehr Mitgliedern als bisher ihre Eigentümerstellung bewusst wird, hat man doch etwas gewonnen!

    Brazda: Auch ich halte die genossenschaftliche Digitalisierung für machbar. Sie ist nur eine andere Art der Kommunikation in der Kooperation. Der Schlüssel dazu sind informierte Mitglieder.

    Braucht es für mehr Gründungen auch eine Reform des Genossenschaftsgesetzes?

    Rößl: Als Betriebswirt sehe ich das pragmatisch. An uns werden manchmal skurrile Geschäftsideen herangetragen – es war noch nie etwas dabei, was wir im GenG nicht „untergebracht“ hätten. Das Gesetz ist sehr flexibel und daher meines Erachtens nicht zwingend reformbedürftig. Es verhindert nichts, aber ermöglicht vieles. Auch bin ich skeptisch, was die Diskussion um eine „Genossenschaft light“ mit Lockerungen bei der Prüfungspflicht betrifft. Gerade die Revision ist wichtig, weil sie Mitgliedern Sicherheit gibt – anders als beim Verein.

    Brazda: Historisch betrachtet gibt es etwa alle zehn Jahre eine GenG-Reform, und die letzte war 2006. Ich würde mir ein neues, modernes Gesetz wünschen, einen großen Wurf. Das bestehende Gesetz stammt großteils aus dem Jahre 1873, der Kommentar dazu ist mittlerweile sehr dick. Andere Rechtsformen haben sich längst modernisiert.