Ein ungleiches Paar

Schulze-Delitzsch und Raiffeisen: Was sie eint, was sie trennt

  • Der 200. Geburtstag von Friedrich Wilhelm Raiffeisen am 30. März rückt die Idee der Genossenschaft heuer verstärkt in den Blickpunkt. Hermann Schulze-Delitzsch hatte dieses Jubiläum bereits vor zehn Jahren. Über das Verhältnis zweier Genossenschaftspioniere, die zur selben Zeit lebten, sich aber nie persönlich begegneten. Was eint ihre Ideen, was trennt sie? Anders als ihr Werk sind die Biografien der beiden Gründerväter des Genossenschaftswesens wenig bekannt. Klar ist: So, wie es eine Verbindung von Schulze-Delitzsch zur österreichischen Schwesterorganisation gab, die auf den Informationsschildern am Eingang des ÖGV-Hauses mit einem Widmungstext zur Verbandsgründung dokumentiert ist, gab es auch schon früh Verbindungen aus Österreich heraus zu Raiffeisen, dem Bürgermeister im Westerwald. Raiffeisens Idee der genossenschaftlichen Selbsthilfe ist historisch, wie auch hierzulande an der Initiierung der ersten Raiffeisenkassen und Lagerhäuser sowie ihrer Ausbreitung sichtbar wird, enger mit der Hilfe durch staatliche Instanzen und staatsnahe Autoritäten verbunden, als es von Schulze-Delitzsch für sein System gedacht worden ist. Streit um das bessere System Doch dies ist nur ein Aspekt einer Reihe weiterer Unterschiede, die zusammengenommen in einem Systemstreit der beiden gipfelten, obwohl es - trotz Raiffeisens Versuchen - nie zu einem direkten Meinungsaustausch kam und auch Briefe unbeantwortet blieben. Zu unterschiedlich waren die Meinungen und Ansichten, aber möglicherweise auch die Stellungen der beiden: auf der einen Seite der Bürgermeister verschiedener kleinerer Gemeinden im Rheinland, auf der anderen Seite Schulze-Delitzsch als der Jurist und Parlamentarier in Sachsen und Preußen. So sehr die von beiden geteilte Idee der Selbsthilfe in der damaligen Zeit als eine Lösung für die Soziale Frage in der Luft zu liegen schien, so unterschiedlich fielen die Zugänge von Schulze-Delitzsch und Raiffeisen in der großen Linie und im Detail aus. Beide haben im Verlauf hinzulernen müssen: Sowohl der von Raiffeisen initiierte erste Versuch, mit einem Wohltätigkeitsverein die Hungersnot zu lindern, wie auch der Vorschussverein in Delitzsch erwiesen sich auf Dauer nicht als lebensfähig. Ihre Ausrichtung und damit die Statuten mussten demzufolge adaptiert werden. Die ersten Gründungen Als initiierend und tragend für die Entstehung und erfolgreiche Entwicklung erwiesen sich die Beobachtungen, die Lernbereitschaft und die Erfahrungen der beiden genossenschaftlichen Pioniere. Ihr persönliches Engagement und ihre Betroffenheit von den Problemen der Menschen in ihrer Nähe, aber auch ihre schriftlichen Ausarbeitungen wie Musterstatuten und Gründungsanleitungen waren beispielgebend und führten zu einer rascheren Verbreitung von (Kredit-)Genossenschaften. Während die Vorschussvereine als Volksbanken Händler und Gewerbetreibende in den Städten ansprachen, entstanden die Raiffeisen-Genossenschaften als Problemlösungen für die Menschen am Lande. Als erste vollständige Raiffeisen-Kreditgenossenschaft gilt der 1862 in Anhausen errichtete Darlehnskassenverein. Die städtischen und ländlichen Kreditgenossenschaften, die im Verlauf regionale Zentralinstitute aufbauten, entwickelten sich in Deutschland sehr lange nebeneinander und traten erst ab 1972 als Einheit auf (FinanzGruppe Volksbanken Raiffeisenbanken). Unterschiede, die bis heute nachwirken Die Vorstellungen der Initiatoren waren jedoch auch in der konkreten Ausgestaltung nicht deckungsgleich, was Unterschiede bis heute erklärt: So sprach sich Schulze-Delitzsch bei den Laufzeiten der Kredite - entsprechend dem Finanzierungsbedarf der Kunden - für kurzfristige Ausleihungen bis zu einem Jahr aus, die Raiffeisen-Darlehnskassen entsprachen den langfristigen Finanzierungswünschen der Bauern. Die Kreditbasis bildeten bei Raiffeisen wie Schulze-Delitzsch die Elemente Solidarhaft und bilanzielles Eigenkapital. Schulze-Delitzsch verband damit eine weitere Form der wirtschaftlichen Förderung der Mitglieder: Über den Geschäftsanteil wollte er die Sparneigung der Mitglieder anregen und sie finanziell absichern. Raiffeisen hielt Geschäftsanteile wegen des fehlenden Bargeldes, gleichzeitig aber vorhandener dinglicher Sicherheiten für entbehrlich, ja sogar für eine Zugangsbeschränkung besonders bedürftiger Mitglieder. Er betonte die Solidarhaft und den Aufbau von dauerhaft nur der Genossenschaft zur Verfügung stehenden Reserven. Schulze-Delitzsch setzte seine Vorstellungen in der Folge auch gesetzlich durch. Für Raiffeisen kam zudem teilweise die Beteiligung Dritter (Fremdhilfe), etwa des Staates oder wohlhabender Bürger, als Garanten in Frage, während bei den Volksbanken nur Mitglieder haften sollten. Die genossenschaftlichen Prinzipien Dennoch waren sich beide in weiten Bereichen einig und stimmten in zahlreichen Grundsätzen überein. Diese Grundsätze werden als genossenschaftliche Prinzipien bezeichnet und sind in die Statuten (Satzungen) und das Gesetz eingegangen. Sie wurden maßgebend für die Organisation der Genossenschaft. Heute dominiert ein System nach Raiffeisen etwa in Finnland, Luxemburg, den Niederlanden und der Schweiz. In Österreich kommen die Raiffeisenbanken auf einen Marktanteil von über 30 Prozent. Hier arbeiten die heute noch rund 430 Raiffeisenbanken (zum Vergleich: im Jahr 2000 waren es noch rund 620) mit den Raiffeisen-Landesbanken und einer nationalen Einheit - bis 2017 war das die Raiffeisen Zentralbank Österreich - in einem dreistufigen System, das aktuell an der Spitze neu geordnet werden soll. Angesichts immer größer werdender Einheiten, die über den ursprünglichen Einzugsbereich des Kirchsprengels dieser als Sonntagskassen entstandenen Raiffeisenbanken längst hinausreichen, hat sich das Selbstverständnis gewandelt. Gleichwohl sieht man in der Wissenschaft, dass es unter den Kreditgenossenschaften heute einer lokalen Genossenschaftsbank noch am ehesten gelingen sollte, den klassischen Förderauftrag glaubwürdig zu realisieren. Erhalt von Quellen und Dokumenten Die Geschichte des Lebenswerkes beider Gründer wird in Deutschland von je einer eigenen Gesellschaft mit eigenem Museum gepflegt. Sehr verdient gemacht haben sich Wolfgang Werner und Walter Koch, die geschichtlichen Hintergründe und - soweit noch verfügbar - Quellen und Dokumente zu erhalten und zu verbreiten sowie die Geschichtsschreibung zu begleiten. Aber auch Johann Brazda und Günther Ettenauer haben unter anderem auf Schulze-Delitzschs Verbindungen nach Österreich hingewiesen. Holger Blisse